Wir gehen durch den Alltag und setzen unseren Kindern Grenzen. Ständig dürfen sie dies nicht, weil es gerade nicht passt, das nicht, weil es unschicklich ist und jenes nicht, weil … na, warum eigentlich? Auch ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich möchte, dass mein Kind etwas tut (oder lässt) und schon höre ich ein Nein aus meinem Mund, ganz bestimmt und ohne eine andere Meinung zuzulassen. Im Hinterkopf höre ich dabei die Stimme meiner Mama Das Kind braucht Grenzen. Aber so richtig wohl fühle ich mich damit nicht immer. Ständig nein sagen, Verbote aussprechen und Regeln vorsetzen – so war unser Alltag mit Samuel bislang oft. Und ich? Irgendwie nicht glücklich. Dabei ist es doch das, was die Gesellschaft vorlebt, dass Kinder klare Regeln brauchen, dass die Erziehung so früh wie möglich stattfinden muss, sonst ist Hopfen und Malz verloren. Auch ich kenne noch zu gut den Satz Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst… ich glaube, ich brauche ihn nicht zu beenden, wir kennen ihn alle.
Aber für mich fühlt sich das falsch an und je öfter ich nein sage, will ich mir am liebsten auf die Zunge beißen und wegsehen. So tun, als bekäme ich die Situation nicht mit, nur um nicht schon wieder ein Verbot verhängen zu müssen. Ich habe Bauchgrummeln. Nein, so mag ich das nicht. Es muss doch eine bessere Lösung geben, bei der ich trotzdem das Gefühl habe, alles richtig zu machen (naja, so viel eben geht. Alles ist wohl unmöglich, man macht immer Fehler). Ja, ich war ratlos, bis ich über die (Nicht?)Erziehungsmethode unerzogen stolperte.

Erziehung ist, das Kind nach eigenen Vorstellungen zu formen.

Erziehung, was bedeutet das eigentlich genau? Was bedeutet es für mich, für uns als Familie? Und was ist dann unerzogen? Erziehung bedeutet für die meisten Menschen, dass man als Erwachsener eine Vorstellung darüber hat, wie ein Kind sein soll und diese Vorstellung, wenn „nötig“ auch gegen den Willen des Kindes, durchsetzt – durch klare Regeln und bei Nichtbefolgung Konsequenzen. Erziehung ist also manipulativ. Dieses Bild, das man in seiner Vorstellung hat, wird durch die Erwartungen der Gesellschaft und ihrer Normen geprägt. Dazu gehört beispielsweise, dass man beim Essen die Füße vom Tisch nimmt, sich im Supermarkt nicht auf den Boden legt, nicht in der Nase popelt.
Aber sollten Kinder sich nicht viel eher selbst entfalten und eine eigene Persönlichkeit entwickeln? Sollten wir ihnen nicht Raum lassen, das zu sein, was sie möchten?

Wenn das Kind nie zu fühlen bekommt, dass es um seiner selbst willen geachtet und geliebt wird, wird aus der Hilflosigkeit, mit der es auf all seinen Entwicklungsstufen konfrontiert ist, eine unaufhaltsame Angst. (Arno Gruen, Psychoanalytiker).

Beziehung statt Erziehung.

Wir als Familie wünschen uns, einen respektvollen Umgang miteinander zu haben, bei dem jeder seine Wünsche äußern kann und wir aufeinander eingehen, aufeinander hören. Wir sind alle gleich viel Wert – und jede Meinung ist gleich viel Wert. Unerzogen. Ich gebe zu, das hört sich wild und rebellisch an, vielleicht sogar provokant dem klassischen Erziehungsstil gegenüber. Aber ich glaube, unerzogen ist mehr eine Lebenseinstellung als eine Erziehungs- (oder Nicht-erziehungs-)methode. Unerzogen bedeutet für mich, mein Kind nicht in eine von mir als richtig befundene Richtung hin zu erziehen, eher ist es ein gemeinsames Miteinander. Es gibt niemanden, der erzieht und keinen, der erzogen wird. Nein, alle Personen im Beziehungsgeflecht sind gleichberechtigt. Die Beziehung ist geleitet von Verständnis, Liebe, Empathie, Gleichwertigkeit und Achtsamkeit, im Prinzip so wie in einer Liebesbeziehung.
Unerzogen heißt für mich, mein Kind seinen eigenen Weg wählen zu lassen und es dabei nicht zu leiten, sondern zu begleiten. Ich möchte mir diesen Grundsatz zu Herzen nehmen, nicht den Geist meines Kindes formen, sondern ihm die Möglichkeit geben, sich eigenständig zu entwickeln.

Kinder haben eine angeborene Entdeckerfreude – bis irgendwann jemand kommt und ihnen sagt, was sie jetzt machen sollen. (Gerald Hüther, Hirnforscher)

Kinder brauchen Grenzen? Mach ein Spiel daraus.

Ja, aber was ist denn mit Regeln? Die muss es doch geben! Wenn ihr Samuel immer noch bei euch schlafen lasst, wird er nie in seinem eigenen Bett schlafen!

Kinder brauchen Grenzen – wie oft habe ich diesen Satz schon gehört. Von meiner Oma, meiner Mama, den Schwiegereltern und Erziehungsratgebern. Aber nur weil die Gesellschaft das als richtig erachtet, ist es für mich selbst noch nicht richtig, oder?

Meist spürst du, dass diese ‘Grenze’ die du da ziehen willst, künstlich ist. Es gibt keine ‘natürlichen’ Grenzen. Es gibt nur Hindernisse. (Ruth von Unerzogen leben)

Es stimmt, oft merke ich, dass ich selbst Grenzen schaffe,  dass ich gerade einfach nur meinen Willen durchsetzen will – weil ich genervt, gestresst oder müde bin (oder auch alles auf einmal, passiert in letzter Zeit häufiger). Dann soll Samuel jetzt seinen Schlafanzug anziehen und bitte sofort her kommen. Wenn ich reflektiert darüber nachdenke, fällt mir später kein triftiger Grund dafür ein. Nichts rechtfertigt meine Eile, meinen Befehl. Sind wir doch ehrlich, fünf Minuten hin oder her, was macht das schon? Das Kind hat seinen Spaß, lassen wir ihn ihm und machen daraus ein Spiel. Kitzeln, singen und dabei Stück für Stück die frisch duftende Kleidung anziehen. Dinge gemeinsam tun, die allein dem Minimann vielleicht gerade keinen Spaß machen – wie Zähne putzen. Ich putze seine, während er mir meine putzt. Und siehe da, es kommt sogar ein Lächeln über seine Lippen, dabei war er sonst so grummelig, wenn es hieß Zähne putzen! Wie wir das angehen, habe ich hier bereits berichtet.

Wie viel Selbstbestimmung tut dem Kind gut? Wie viel Fremdbestimmung muss sein?

Mittlerweile gelangen wir mit Samuel stressfreier ans Ziel (und mit viel mehr lachen, weniger weinen!). Trotzdem, immer wieder schleicht sich mein Bedürfnis nach klaren Regeln und Schutz ein – und dann spreche ich sie wieder aus, die bösen Verbote. Nein, Samuel nicht da rauf klettern! Nein, leg das Messer weg! Nein, nicht mit dem Holzauto nach Mama schmeißen! Solche Situationen versuche ich dann, nachdem ich darüber nachgedacht habe, beim nächsten Mal anders zu gestalten. Ich lasse Samuel klettern, er soll sich selbst erfahren, seine persönlichen Grenzen spüren. Also darf er klettern und ich bleibe in der Nähe. Ist der Abgrund niedrig, der Boden entsprechend weich und er fällt, dann tröste ich ihn. Ich erkläre ihm, dass er besser aufpassen muss, weil er sich sonst weh tut. Ist der Abgrund hoch, erkläre ich ihm, dass er ganz vorsichtig sein muss, weil er sich weh tun kann – und weiche meinem Sohn nicht von der Seite. Aber ich schenke ihm Vertrauen, Vertrauen in sich selbst und seine Fähigkeiten. Das Brotmesser lasse ich in seiner kleinen Hand und lege meine darum, dann bestreichen wir das Käsebrot eben gemeinsam, so lange, bis er alt genug ist, es allein zu tun. Gemeinsam ist die Devise, nicht gegen einander – und ich erkläre ganz viel. Wichtig ist mir, dass ich je nach Situation entscheide, es keine starren festen Regeln gibt. Manchmal ist es in Ordnung, wenn mein Kind etwas tut, manchmal nicht. Dann erkläre ich ihm das. Zu Hause beispielsweise, haben wir von Anfang an BLW (baby led weaning) praktiziert. Essen wurde zu einer Erfahrung mit allen Sinnen, da flog schon auch mal etwas durch die Luft – Brokkoli musste auf Flugfähigkeit getestet werden. Im Restaurant geht das natürlich nicht. Versteht mein Mini nicht und findet er doof. Aber wir erklären ihm dann ganz sachlich, warum das nicht geht und er isst dann meist sehr gesittet mit der Gabel.

Wieso ich nicht will, wenn ich soll und ich nicht möchte, wenn ich muss. (Lisa von Geborgen und geliebt)

Aber ganz oft, da lasse ich ihn einfach machen – weil einfach nichts dagegen spricht. Denn oft sind es harmlose Konsequenzen, die das Tun unserer Kinder hat. Ein mal nackig durch die Bude rennen – und im schlimmsten Fall eine Pipi-Pfütze aufwischen. Den Badeeimer mit Wasser füllen und neben die Wanne kippen, das spritzt so herrlich – schlimm? Warum, weil ich danach etwas Arbeit habe? Kann man doch in zwei Minuten aufwischen, dafür hatte das Kind zwanzig Minuten Spaß! Den Wäschekorb und den Vorratsschrank ausräumen? Ist doch in Windeseile alles wieder eingesammelt. Ja, oft ist mein erster Impuls ein Nei… und ich springe auf, aber dann setze ich mich wieder hin, lächle sanft und beobachte Samuel, wie er die Welt entdeckt, wie sich sein süßer Mund zum breitesten Lächeln formt und mein Herz geht auf.

Das Nein-Verbot.

Trotzdem, ein paar strikte Regeln gibt es auch hier. Immer dann, wenn das Leben oder die Gesundheit des eigenen Kindes oder anderer Menschen in Gefahr ist, sind Regeln meiner Meinung nach wichtig. Auf die Straße laufen, anderen weh tun – das sind Dinge, die wir nicht dulden. Aber immer wenn es eine solche Regel gibt, erklären wir sie plausibel und hoffen, dass Samuel die Erklärungen versteht. Es fällt uns selbst doch auch viel leichter, Regeln zu befolgen, bei welchen wir die Sinnhaftigkeit dahinter verstehen, oder?
Nein ist nun nicht mehr mein häufigstes Wort am Tag, aber darf durchaus noch den Weg über meine Lippen finden. Unerzogen bedeutet nicht, dass es keine Verbote mehr geben darf, es gibt kein Nein-Verbot. Es soll aber wenn dann ganz bewusst Verbote geben, Verbote, die auch von den Kleinsten verstanden werden. Jeder hat das Recht Nein zu sagen, wenn er etwas nicht möchte, aber es sollte begründet sein, verständlich formuliert und je nach Situation sollte entschieden werden, ob ein Nein tatsächlich notwendig ist (weil die Situation bedrohlich ist beispielsweise).
Es ist auch in Ordnung, wenn ein Nein das Kind wütend macht und es frustriert ist. Wer wäre das nicht? Ich versuche Samuel dann Raum zu geben, ihm Möglichkeiten anzubieten, die er als Ventil für seine Wut nutzen kann. Beispielsweise einen Ball, den er werfen kann statt dem Holzauto. Oder ich lenke ihn ab, wir machen etwas das ihm Spaß macht. Manchmal hilft es auch, ihm zu erklären, dass er wütend sein darf, aber dass es nun mal gerade nicht anders geht. Dass er die Schokolade im Süßigkeitenregal jetzt nicht essen darf, aber dass er gleich stattdessen eine Banane bekommt, beispielsweise.

Grenzen muss es geben, aber welche?

Natürlich gibt es auch Grenzen. Meine persönliche Grenze unterscheidet sich in vielen Dingen von der meines Partners oder meines Kindes. Manchmal ist es nur ein Bedürfnis, das stelle ich dann zurück. Der Müll muss nicht jetzt weggebracht werden, beispielsweise. Grenzen erkläre ich und artikuliere sie hingegen klar.

Und wenn ich ehrlich bin, verfalle ich noch oft ich in die alten Muster zurück und bis zu einem wirklich gleichberechtigten Miteinander liegt noch ein langer, steiniger Weg vor uns. Die Schuld gebe ich den Konventionen, mit denen ich selbst aufgewachsen bin und die mich, nunja, regelrecht (oh der war schlecht, oder?) zu der Person erzogen haben, die ich heute bin. Aber ich lerne jeden Tag dazu, hinterfrage all dies und stelle immer wieder fest, dass es doch möglich ist, dem Kind die Entscheidung zu überlassen, ganz ohne Regelwerk. Irgendwie wursteln wir uns momentan durch den Alltag – ganz behutsam und möglichst bewusst.

Unerzogen bedeutet Grenzen wahren – ohne Gewalt. (Lisa von Geborgen und geliebt)

Meine Wünsche.

Unerzogen soll mein Kind sich selbst formen lassen. Es soll sich entdecken und zu einem selbstbewussten Menschen heranwachsen, der sich traut, zu sich und seiner Meinung zu stehen. Egal vor wem, egal wann. Denn es soll wissen: jede Meinung zählt.

Alles Liebe,
eure Jasmin

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