Kinder mit Regulationsstörungen haben Probleme, sich der schnellen lauten Welt anzupassen. Häufig sehen sich die Eltern mit sehr unzufriedenen Kindern konfrontiert, müssen trotz reizarmer Umgebung oft stundenlanges Schreien aushalten. Sandi berichtete bereits in einem ersten Teil von ihrer ersten Tochter, die ein Kind mit solchen Regulationsstörungen ist. Heute folgt der zweite Teil und ihr werdet merken, dass die letzten Jahre sie sehr viel Kraft und Nerven gekostet haben. Aber es hilft Sandi, über die Situation zu sprechen und sich mit anderen Müttern auszutauschen, die Ähnliches erlebt haben. (Hier könnt ihr den ersten Teil finden.)

Juli-0427

Ich wurde wieder schwanger und zwei Monate vor Lilys zweitem Geburtstag kam mein Sohn Theo auf die Welt.

Eine Geburt, die nicht anders hätte verlaufen können. Kurz und brutal, um es in zwei Worten zu beschreiben. Aber auch überraschend, zauberhaft, einfach der Wahnsinn. Weil zwei Worte eben doch nicht ausreichen für ein solches Ereignis. Da war er – mein Sohn. In der ersten Nacht im Krankenhaus freute ich mich über jede Stunde in der er ruhig war und friedlich bei mir schlief. Kein Ton war zu hören von ihm. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, lauerte ich. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich ein Kind haben sollte, das einfach so an der Brust einschläft. Das eingekuschelt in meinem Arm selig schlafen würde oder das irgendwann mal später zufrieden quiekend unter einem Spielebogen liegen würde. Alles Dinge, die ich Babys hatte tun sehen, aber nie meines.
Doch zunächst blieb es ruhig.

Nach nur wenigen Tagen änderte sich das aber gewaltig. Er schrie durchdringender, lauter und ausdauernder als ich es von Lily kannte, ließ sich durch keine meiner bei meiner Tochter erprobten Techniken beruhigen und schlief mit seinen sieben Lebenstagen tagsüber nie länger als fünf Minuten am Stück. Selbst bei andauerndem Schaukeln im Arm. Nachts lief ich mit ihm meine Runden, wie eine Löwin auf der Pirsch. Ich heulte still vor mich hin, mit einem gepuckten, sich windendem Säugling im Wiegegriff und konnte einfach nicht glauben, was da passierte.

Damals hatte ich großes Glück, denn ich hatte die wertvollste Hebamme an meiner Seite, die ich mir hätte aussuchen können. Geballtes Profi- und Mamawissen, selbst Mutter von vier Kindern, zwei davon Schreikinder. Sie wusste, wie sie mich anzupacken hatte. Mit ihr zusammen erarbeitete ich einen Tagesablauf für Theos erste Wochen, an den wir uns peinlich genau hielten. Alles um der Gefahr zu entgehen, dass er in eine zu große Übermüdung kam, aus der ich und er nicht so einfach wieder raus kamen. Das klappte teils, aber nicht immer, denn mit einem Kleinkind im Haus konnte ich nicht immer voll darauf Rücksicht nehmen. Was aber bezeichnend war, ist, dass wann immer ich sie um Hilfe rief und sie kam, Theo sofort ein wenig ruhiger wurde und sie ihn auch oft zum Schlafen brachte. Sie war es, die mir sagte, wie wichtig es sei, dass ich selbst Ruhe ausstrahlte und ruhig blieb. Und dass ich ihn öfters auch mal aus der Hand geben müsse – was mir dennoch bis heute schwer fällt.

Mit ihr zusammen habe ich die ersten vier Monate von Theos Leben gut gemeistert, ohne dabei nervlich drauf zu gehen. Ich war Tag wie Nacht im Dauereinsatz. Aber das kennen ja viele Mamas. Es gibt viele Säuglinge, die schon mit nur wenigen Lebenswochen kaum tagsüber schlafen, dafür aber gut drauf sind. Bei ihnen scheint das Schlafbedürfnis aus irgendeinem Grund niedriger. Für Mamas auch oft zermürbend, aber immerhin wird nicht pausenlos gebrüllt. Dann gibt es Babys, die sehr viel weinen und schreien, aber trotzdem, wenn sie in den Schlaf gefunden haben, einige Zeit am Stück erholsam schlummern können. Und dann gibt es die Kinder mit Regulationsstörung. Eigentlich sehr empfindsame, reizoffene Kinder, die viele Pausen brauchen, um Eindrücke zu verarbeiten, aber nicht wissen, wie sie ihren auf Hochtouren surrenden Organismus herunterfahren können. Diese Anspannung entlädt sich dann in herzzerreißenden, unstillbaren Schreien.

Nach den ersten harten und kräftezehrenden sechs Monaten wurde es auch bei ihm immer einfacher (und es wird immer noch besser). Ich weiß nicht, sind es die Kinder oder die Eltern, die dann den Bogen eher raushaben? Oder ist es das immer weniger werdende Schlafbedürfnis, das den Tag einfacher macht? Trotz allem blieben wache Stunden, in denen er gut gelaunt war zunächst selten. Aber auch das besserte sich, wenn auch sehr langsam. Denn auch er ist und bleibt ein sehr sensibles Kind, der immer noch schnell und oft und sehr laut sein muss um sich zu entladen. Noch lange lief ich Runden um unseren Esstisch mit ihm in der Manduca, wie ein Flugzeug auf Landeanflug. Ich wusste, er kommt dann nur so zur Ruhe. Und das ist völlig in Ordnung.

Mir liegt dieses Thema so sehr am Herzen, weil für mich die Neugeborenen Phase von außen immer etwas so Schönes hatte, etwas Friedliches, voller Liebe, Ruhe und auch Nähe. Ich hatte mir das in meinen Schwangerschaften immer so herrlich, rosarot erträumt. Meine Realität war beide Male ganz anders und das macht mich immer noch traurig. Ein Teil von mir denkt da nach wie vor, dass ich unfähig und selbst schuld bin. Der andere Teil ist stolz auf das, was ich mit meinen Kids und meiner Familie geschafft habe und auf das starke Band, das uns verbindet. Ich höre oft von Frauen, denen es ähnlich geht und fühle sofort das Bedürfnis, helfen zu wollen, auch wenn Hilfe mehr im Sinne von Austausch gemeint ist und von dem Versuch die Schuldgefühle zu nehmen und die Versagensängste zu entkräften!
Ich möchte nicht, dass ihr mich falsch versteht. Ich weiß, ich bin gesegnet. Ich habe drei gesunde Kinder. Uns geht es gut. Wir leben in Sicherheit und Liebe. Es gibt so viel schlimmere Schicksale, ohne Frage. Und trotzdem ist es mir ganz wichtig, dass Mamas sich gerade im ersten Jahr mit Baby nicht allein fühlen, nicht ungenügend, nicht verzweifelt. Dieses erste Jahr ist so kostbar und sollte nicht von Selbstzweifeln beherrscht werden.

Ich habe in den gesamten Babymonaten meiner Kinder viel probiert und ausgetestet. Denn bekanntlich ist mit verzweifelten Eltern viel Geld zu machen. Wenn ich Montag morgens um sieben Uhr irgendwo einen Beitrag gelesen hätte, in dem ein Baby, das viel schrie, durch das Einreiben mit Känguruhurin wie ausgewechselt war und plötzlich durchschlief, dann könnt ihr euch denken, wer um spätestens acht Uhr mit Einmachgläsern unterm Arm im Flugzeug nach Australien gesessen hätte. Ganz ehrlich, diese Herumrennerei nach dem Wundermittel schlechthin war auch manchmal ganz gut. Ich hatte wieder Hoffnung, konnte etwas testen, etwas tun. Aber Fakt ist eben auch, dass bei jedem Kind etwas anderes funktioniert und man nicht mehr als ausprobieren und mit seinem Kind lernen und wachsen kann. Und das ist ja das Schöne, die Zeit ist auf unserer Seite. Sie lernen, sie wachsen, und es wird so viel einfacher.
Eine Einsicht, die mir bei meinem dritten Kind sehr geholfen hat. Ja wir haben uns an ein drittes Kind gewagt. Manch einer hielt uns für irre, manche einer einfach für furchtlos. Klar ich wusste, dass es mir auch beim dritten Kind wieder passieren könnte, ein sensibles und schlecht zur Ruhe kommendes Baby zu bekommen. Aber insgeheim hoffte ich auf eines dieser ‚Anfängerbabies‘, von denen ich schon so einige selbst erlebt hatte.

Aber ich bin nun mal kein Anfänger. Ich war ja gewappnet, ausgestattet, erprobt. Also sollte ich auch diesmal mein Wissen erweitern dürfen. Ganz sicher reichte mein zweiter Sohn nicht an die Intensität der ersten beiden heran. Aber es reichte, um mich noch einmal zum (ver-)zweifeln zu bringen. Diesmal war es meine Hebamme, die mich schon während der Schwangerschaft darauf vorbereitete. Sie meinte, es ist gut möglich, dass diese hohe Sensibilität einfach in unseren Genen liegt. Sie war wohl eher darauf eingestellt als ich.

Auch bei ihm waren die ersten Monate nun schwierig. Und vorallem laut und mit wenig Schlaf für beide von uns. Es verschärfte die eh schon nicht ganz einfache Situation mit drei kleinen Kindern gewaltig. Gerade anfangs, wenn alle Zahnräder der Familie neu eingestellt und wieder ineinandergreifen müssen, hatte ich darauf gehofft, wenigstens ein tiefenentspanntes Baby an meiner Seite zu haben. Aber nein, er stellte den Familienfrieden zu Beginn ganz schön auf die Probe. Theo, der immer noch sehr lärmempfindlich ist, war bei jeder Schreiattacke selbst in höchster Alarmbereitschaft. Dennoch legte sich bei ihm diese hochexplosive Phase weit schneller als bei den anderen Zweien. Liegt es daran dass ich gleich mit meinem ganzen Arsenal an Schreikindequippment aufgefahren bin? Ich ließ vielleicht gar nicht zu, dass es sich so enorm zuspitzte, sondern bettete ihn gleich in die nötige reizarme Umgebung, trug ihn an manchen Tagen quasi pausenlos, stillte ihn sogar in der Trage, setzte ihn nur nachts ab, reduzierte Besuche oder Ausflüge auf das Nötigste. Klar war das körperlich ganz schön heftig, gerade Anfangs, aber es zahlte sich aus.

Gelernt diese Aufgabe auch mal abzugeben, habe ich nur bedingt, das muss ich sagen. Zumal sich aber auch meine Situation bezüglich der Möglichkeit dessen nicht geändert hat. Ich bin immer noch meist allein mit allen Dreien und ja meine Nerven sind auch nicht selten dünn und ich fahre aus der Haut. Und dann, immer dann reagiert auch der Mini. Natürlich. Diese Symbiose die wir mit unseren Babies haben. Sie besteht zum einen körperlich durchs stillen aber auch auf emotionaler Ebene, durch und durch. Ich will nicht klagen. Ich fühle mich unendlich gesegnet mit meinen drei komplikationslosen Schwangerschaften, Geburten und meinen drei gesunden und wundervoll sensiblen Kindern.

Ich will nur, dass sich Mamas mit ebenso sensiblen, hoch anspruchsvollen, leicht reizbaren Babies nicht allein fühlen. Denn genauso fühlte ich mich damals mit Lily. Das Gefühl nicht gut genug für mein Baby zu sein war so stark, das Gefühl etwas falsch zu machen ständig präsent und die daraus resultierende Scham enorm. Lasst euch gesagt sein, ihr seid genug. Ihr seid genau die Mama, die euer Baby braucht. Sie weinen nicht, weil ihnen etwas fehlt, ihr seid da, gebt was ihr könnt. Sie weinen, du weinst, aber im Grunde sind eure Herzen miteinander verbunden und eure Arme halten sich gegenseitig. Ihr erfahrt so viel Gebrauchtwerden wie nie in eurem Leben. Lasst es zu. Ihr könnt das. Ihr seid genug!
Auch nach drei Kindern muss ich mir an manchen heftigen Tagen oder Phasen diesen letzten Absatz immer wieder sagen, so groß sind die Zweifel, die da in einem hochkriechen wollen. Aber ja, auch ich bin genug.

Ich denke, man liest sehr viel Verzweiflung auf der einen, aber auch unbändige Liebe auf der anderen Seite aus Sandis Worten. Gleich drei hochsensible Kinder zu haben ist eine wahnsinnig große Herausforderung für eine Familie. Als Mutter stellt man sich in Frage, kämpft mit Wut und Trauer und gleichzeitig ist man dankbar, dass diese Kinder da sind.

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Habt ihr ebenfalls ein Schreibaby, dann sucht euch Hilfe im familiären Umfeld oder auch im Netz auf beispielsweise einer der oben aufgeführten Seiten. Und denkt immer daran: ihr seid gut genug für euer Kind. Ganz sicher.

Alles Liebe,
eure Jasmin