Seit ich mich mit bedürfnisorientierter Elternschaft beschäftige, stolpere ich immer wieder über ein und die selbe Frage: Brauchen Kinder Grenzen? Und wenn ja, wie passt das mit bedürfnisorientierter Erziehung zusammen?

Kinder brauchen Grenzen und Führung
– von Macht, Strukturen und Bedürfnissen

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Eltern haben Macht


Wir müssen uns zunächst klar machen, dass Eltern Macht über ihre Kinder haben – das liegt ganz einfach in der Natur der Dinge. Wir sind älter und für unsere Kinder verantwortlich. Während der ersten Lebensjahre haben wir sogar die unbegrenzte Macht über unsere Kinder – rein rechtlich gesehen sogar bis zum Erwachsenenalter. Essentiell wichtig ist aber, wie und wann wir diese Macht nutzen.
Ist ein Kind in Gefahr, liegt es in unserer Verantwortung, diese Macht zu nutzen und das Kind, auch entgegen seines Willen, zu schützen. Beispielsweise, wenn ein Kind auf die Straße fahren will oder es auf einem zu hohen Klettergerüst spielt und droht, herunterzufallen. Aber auch, wenn es unbedingt das große Küchenmesser nehmen möchte, um uns beim Zubereiten des Mittagessens zu helfen. Hier ist uns allen klar, dass wir unsere Machtposition nutzen und das Kind schützen müssen. Dass es Regeln geben MUSS.
Das Wie spielt nun aber eine entscheidende Rolle. Manchmal haben wir nur eine Millisekunde, um zu reagieren und manchmal können wir vielleicht eine Alternative anbieten, ein Kindermesser beispielsweise.

Regeln bereiten Kinder auf die Gesellschaft vor

Wir sind uns also einig, dass in manchen Situationen die Macht der Eltern durchaus sinnvoll ist. Einige Eltern plädieren über diese Situationen hinaus für klare Regeln, vor allem, um die Kinder auf das spätere Leben vorzubereiten, in dem es ebenfalls gewisse gesellschaftliche Regeln geben wird. Ja, in jeder Gesellschaft gibt es Normen und Regeln und früher oder später (wahrscheinlich eher früher) wird der Moment kommen, an dem das Kind auf Regeln treffen wird, die es noch nicht kennt – in der Schule beispielsweise. Doch was ich mich frage ist: Muss ich mein Kind tatsächlich jetzt schon an diese Einschränkung gewöhnen? Muss es jetzt schon Jahre lang gewissen Normen entsprechen, die es später vielleicht irgendwann einmal erfüllen muss? Das wäre so, als würde ich meinen Dreijährigen jetzt schon fünf Stunden täglich an einen Tisch setzen, an dem es ruhig sitzen soll, weil es das später in der Schule auch können muss.

Kinder kommen mit großer Weisheit auf die Welt, doch ohne Erfahrung. – Jesper Juul

Kinder werden als soziale Wesen geboren. Sie bringen alles mit, was sie benötigen, damit eine gute Beziehung gelingt. Sie sind wissbegierig, lernen schnell und sind kooperationsbereit. Es liegt dann an uns, diese Fähigkeiten zu bestärken und sie durch Erfahrung reifen zu lassen.

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Regeln als etwas Positives

Um Kindern die Möglichkeit zu geben, sich frei zu entfalten, ohne einer Gefahr ausgesetzt zu sein, muss es Regeln geben. In vielen Punkten setzen wir Grenzen ganz automatisch. Wir bringen beispielsweise einen Steckdosenschutz und ein Treppengitter an, damit das Kind sich im Haus frei bewegen kann, ohne sich zu verletzen. Aber wir setzen auch Grenzen, um unsere eigenen Bedürfnisse zu wahren. Und Kinder testen diese Grenzen, um herauszufinden, ob wir wirklich hinter diesen Regeln stehen. Sie bringen unser Innerstes zum Äußersten und möchten herausfinden, wer wir SIND. Es ist also wichtig, wenn wir Regeln aufstellen, dass wir uns überlegen, warum wir diese Regeln machen. Sind sie eine Norm der Gesellschaft oder stelle ich damit mein eigenes Bedürfnis sicher? Die Bedürfnisse der Eltern sind ebenso wichtig, wie die der Kinder. Schließlich sind ALLE Mitglieder unserer Familie gleichwürdig. Wenn ich meinem Kind gerade nicht vorlesen mag, weil ich zu erschöpft bin, dann ist das meine Grenze. Wenn ich mich nur in einem aufgeräumten Wohnzimmer wohl fühle, dann schaue ich, ob und wie weit ich diese Grenze verschieben kann, damit das Kind UND ich glücklich sind. Die eigenen Grenzen auszuloten und klar zu kommunizieren ist wichtig, damit wir wir selbst bleiben. Und trotzdem ist oft gelesene Kritik: Grenzen und Regeln schränken uns ein. Ja, das stimmt. Grenzen Anderer, die mit unseren eigenen nicht übereinstimmen, geben uns ein unangenehmes Gefühl. Es können Reibung und Konflikte entstehen. Aber wir verlieren dabei oft einen wichtigen Punkt aus den Augen: Was passiert mit uns, wenn wir diese Regeln als Chance ansehen, als etwas Positives? Als etwas, das dem Kind Sicherheit gibt? Dann geben diese Regeln dem Kind einen Rahmen, in dem es sich frei aber sicher bewegen kann. Dann sind sie eine Orientierung und ein fester Pfeiler, den das Kind im Alltag so sehr braucht. Und mit der Zeit, wenn das Kind wächst, oder wenn wir über uns hinauswachsen, verschieben sich Regeln, weiten sich aus. Alte Regeln werden aufgehoben und neue kommen hinzu. Alles ganz normal – das gehört zum Prozess dazu.

Manche Kinder tun sich schwerer

Für Kinder ist ein klarer Rahmen in dem sie sich bewegen können enorm wichtig, denn so verstehen sie, dass in einer Beziehung das Gegenüber andere Grenzen hat, als sie selbst.
Manche Kinder benötigen durch ihren Charakter im Alltag mehr Führung als andere. Während ein Kind schon nach den ersten Malen versteht, dass es seine Wut nicht an anderen Personen auslassen darf, kann ein anderes dies noch nicht verstehen und übertritt diese Grenze somit immer wieder. Hier liegt die Verantwortung bei uns Eltern, das Kind zu führen und ihm immer wieder diese Grenze klar zu machen. Das heißt nicht, dass wir das Kind anschreien oder fest am Arm packen dürfen, aber ein klares Stopp mit eindeutiger Mimik können dem Kind helfen, diese Grenze wahrzunehmen.

Ich kann das oft an unserem Großen beobachten, der sich (noch) schwer tut, Grenzen zu akzeptieren. Der immer wieder ausprobiert und testet, ob sich an dem Reglement etwas verändert hat. Das ist anstrengend, ja. Aber ich bin mir sicher, dass er mit jeder Situation etwas dazu lernt (und ich übrigens auch!).

Strukturen geben Sicherheit

Kinder brauchen Strukturen und Sicherheit. Sie müssen uns vertrauen können, uns (zu)hören und auch folgen. Das ist ein Wechselspiel zwischen Bindung und Selbstbestimmung. Gehe ich in Beziehung, wahre ich die Grenzen des Anderen. Bin ich selbstbestimmt, gerate ich mit den Grenzen meines Gegenübers womöglich in einen Konflikt. Ein Balanceakt, den unsere Kinder täglich gehen, genau wie wir. Nur können wir Eltern besser einschätzen, wann wir rücksichtsvoll sein sollten und unsere Selbstbestimmung hinten anstellen.

Wenn wir als Eltern klar unsere Bedürfnisse kommunizieren und auch klar in unseren Regeln sind, fällt es dem Kind leichter, sich zu entspannen und zu kooperieren. Beständig, klar sein. Sind wir das nicht, lotet das Kind jedes Mal aufs neue aus, wo die Grenze ist. Das ist extrem anstrengend. Und trotzdem, Grenzen verschieben sich und das Kind wird lernen, damit umzugehen. Aber wir als Eltern müssen ihm die Sicherheit geben, es dabei zu begleiten, wenn es diese Grenze neu auslotet und es auffangen, wenn es zu weit geht.
Wenn das Kind sich darauf verlassen kann, dann wird unsere Beziehung wird wachsen.

Alles Liebe,
Jasmin